Von Miggi
Jetzt mal Hand aufs Herz oder was auch immer sonst in eurer Brust schlägt, ihr Echsenmenschen - wolltet ihr nicht auch schon immer mal auf der bösen Seite einer Geschichte stehen? Und ich rede jetzt nicht von irgendwelchen kurzen Flashbacks, Halluzinationen, Paralleldimensionen oder Stories in denen sich der oder die Antiheld*in später als gut herausstellt. Ich meine so richtig richtig böse. Kein höheres Ziel, das doch irgendwie auf Gutes im Inneren schließen lässt. Die Figur, die von allen als die schlechte Seite der Story wahrgenommen wird. Selbst wenn nicht - der neue Reverse Horror Indie-Titel Carrion von Phobia Games Studio gibt euch genau dazu die Möglichkeit. Als namensgebendes Monster dürft ihr einmal so richtig Terror verbreiten. Was auf der gamescom 2019 für mich als Demo schon perfekt funktioniert hat ist mittlerweile für die Xbox One und die Nintendo Switch erschienen und für Game Pass-Abonnent*innen sogar als Teil des Services spielbar.
Dazu brecht ihr zu Beginn des Spiels aus dem Sicherheitsbehälter aus, der die längste Zeit euer viel zu kleines Zuhause gewesen sein sollte. Ab da an bewegt ihr euch mit Hilfe eurer Tentakel blitzschnell durch die riesige Vorschungseinrichtung, in der offensichtlich an euch experimentiert wurde, krabbelt durch Lüftungsschächte, schwimmt durch Abflüsse und versucht euch so den Weg nach draußen zu bahnen. Wobei ihr nicht wirklich wisst was draußen überhaupt auf euch wartet. Der Antrieb eures Monsters ist einfach nur nicht mehr in Gefangenschaft leben zu müssen. Das Sicherheitspersonal der Anlage hat darauf allerdings überhaupt keinen Bock und stellt sich euch mit immer größer werdender Waffengewalt in den Weg. Dass sie das aber lieber nicht hätten machen sollten, zeigt ihr ihnen recht schnell.
Eure Tentakel verwendet ihr nämlich nicht nur, um euch fortzubewegen, sondern auch für die Offensive. Mit dem rechten Stick bestimmt ihr die Angriffsrichtung, während ihr mit dem rechten Trigger zuschnappen könnt. Je weiter ihr im Spiel voran kommt, desto mehr und stärker bzw. besser ausgestattet werden eure Gegner*innen. Anfangs sind diese entweder noch komplett unbewaffnet oder haben höchstens eine Pistole, um sich zu wehren, gegen Ende bekommt ihr es dann allerdings mit Drohnen, gepanzerten Flammenwerfertruppen oder sogar Kampfmechs zu tun, die euch mit allen Mitteln aufhalten wollen. Meistens gibt es für euch aber genug Möglichkeiten euch zu verstecken und so könnt ihr in guter alter Horror-Manier Mensch nach Mensch nacheinander ausschalten. Die Gegner*innen ohne Körperpanzerung tötet ihr auf eurem Beutezug nicht nur, sondern fresst diese direkt. Das stellt nicht nur eure Gesundheit wieder her, sondern macht euch mit der Zeit auch größer.
Je nachdem wie viele Upgrades ihr bereits gefunden habt, habt ihr die Wahl zwischen 3 verschiedenen Monster-Größen, mit unterschiedlichen Stärken und Skills. Diese Skills und auch die Fähigkeit zu wachsen, müsst ihr aber erst einmal freischalten bzw. finden. In der verwinkelten Forschungseinrichtung findet ihr in Carrion dazu immer wieder Behälter, wie den, aus dem ihr zu Beginn des Spiels ausgebrochen seid. Diese brecht ihr in eurer neugewonnenen Freiheit natürlich easy auf und gönnt euch den Inhalt. So erhaltet ihr etwa die Fähigkeit eines eurer Tentakel weit nach vorne zu schießen und damit Dinge wie Schalter betätigen zu können. Wie man es sonst auch aus Metroidvanias kennt öffnet sich euch so meistens ein neuer Pfad, der euch ohne den neu gewonnenen Skill noch verschlossen war und ihr könnt weiter auf die Jagd gehen. Ich würde allerdings selbst nicht so weit gehen Carrion als Metroidvania zu bezeichnen. Auch wenn es vielleicht doch ein bisschen in die selbe Kerbe schlägt.
Die Steuerung von Carrion wollte bei mir anfangs nicht direkt zu 100% in Fleisch und Blut übergehen. Zwar habe ich die Kommandos relativ gut hinbekommen, aber das Movement bzw. das Zielen mit dem "Fress-Tentakel" war ab und zu noch etwas hakelig. Mit ein bisschen Eingewöhnungsphase habe ich es allerdings gut hinbekommen abzuschätzen, wo mein Monster für Gegner*innen sichtbar bleibt und wie ich mich besser verstecken kann. Was mir bei der Navigation durch die Forschungsanlage allerdings stets gefehlt hat, war eine Karte. Das einzige, was euch an die Hand gegeben wird, ist ein Impuls, den ihr auslösen könnt, um von den Points of Interest eine Meldung zurück zu bekommen, damit ihr in etwa wisst, in welche Richtung ihr euch bewegen müsst. Zwar sind die verschiedenen Abschnitte nicht sonderlich schwer navigierbar gestaltet, aber für die diversen Collectibles, die ich nach Spielende noch gerne einsammeln wollte, hätte eine Karte echt gut getan.
Meine anfängliche Angst, dass der Pixel-Look des Spiels den Horror-Aspekt eventuell abschwächen bzw. der Atmosphäre schaden könnte, hat sich relativ schnell in Luft aufgelöst. Sobald ihr die ersten armen Forscher*innen der Einrichtung in Stücke reißt, durch enge Gänge kriecht, in denen das Licht flackert, Türen aus der Verankerung reißt und sie durch die Luft wirbelt sollte euch klar sein, dass trotz minimalistischem Look auf jeden Fall genau die richtige Stimmung aufkommt. Soundtechnisch wurde das Spiel von niemand geringerem als Cris Velasco perfekt unterlegt. Wer sich jetzt fragt, wer das ist - Velasco war unter anderem beteiligt an den Soundtracks für Bloodborne, Resident Evil 7 und der Darksiders-Serie. Genau der Richtige für den Job also.
Mit maximal 5-6 Stunden, wenn ihr wirklich alles gründlich untersuchen wollt, ist das in Polen entwickelte Carrion nicht zu sehr in die Länge gezogen und kann in ein paar kurzen Sessions oder direkt an einem Stück durchgespielt werden. Und obwohl ihr euch das ganze Spiel über in der Forschungsanlage aufhaltet, gibt es genug Abwechslung im Leveldesign. Vor allem in Kombination mit den verschiedenen Fähigkeiten, die euch später auch schneller durchs Wasser schicken, hatte ich nie das Gefühl zu viele Gegenstände oder Assets immer wieder zu sehen. Zwischendrin werdet ihr außerdem immer wieder mal durch kleine Flashbacks geschickt, die euch einen weiteren Aspekt der Story näher bringen sollen. Dazu sei an dieser Stelle aber nicht zu viel verraten.
"Carrion lässt euch als Reverse Horror-Spiel in die Haut eines echten Monsters schlüpfen und es macht unglaublich Spaß die Forschungsreinrichtung in Schutt und Asche zu legen und auf dem Weg alles mitzureißen, was nicht bei Drei den Flammenwerfer auf euch gerichtet hat."
Mein Eindruck nach der gamescom letztes Jahr hat sich in der Vollversion nun nur noch einmal bestätigt: Carrion lässt euch als Reverse Horror-Spiel in die Haut eines echten Monsters schlüpfen und es macht unglaublich Spaß die Forschungsreinrichtung in Schutt und Asche zu legen und auf dem Weg alles mitzureißen, was nicht bei Drei den Flammenwerfer auf euch gerichtet hat. Na gut, eher bei Eins. Eure Tentakel sind nämlich echt schnell. Wie erwähnt hätte lediglich eine Map, zumindest nachdem man die Hauptgeschichte abgeschlossen hat, meine Erfahrung perfekt abgerundet. Und eine noch etwas smoothere Steuerung. Aber das sind nur Kleinigkeiten. Devolver Digital hat als Publisher wieder einmal bewiesen, dass sie ein Näschen für besondere Indie-Spiele haben, denn Phobia Game Studio hat da weitergemacht, wo sie 2016 mit Butcher aufgehört haben und ihren 2D-Pixel-Blut-Horror perfektioniert. Ich bin gespannt, wo uns die Reise des Studios als nächstes hinführt. Achso und PS: guckt euch unbedingt das Behind the Screams-Video zu Carrion an. Das ist großartig!