Von Miggi
Das Sub-Genre der Loot-Shooter hat seit dem Release von Destiny im Jahr 2014 einen rasanten Aufstieg in der Videospielwelt erfahren und mit Destiny 2 oder The Division 2 konnten Fans dieser Art von Spiel in der letzten Zeit auf eine nicht zu verachtende Auswahl an Spielen mit genug Fleisch am digitalen Knochen blicken. 2019 hat es sich Electronic Arts zur Aufgabe gemacht den nächsten "Big Player" in den Ring zu schicken und mit Anthem nicht nur eine neue IP geschaffen, sondern mit Bioware auch einen namhaften Entwickler an den Titel gesetzt. Das 1995 gegründete kanadische Entwicklerstudio, bisher bekannt durch RPG-Titel wie Baldur's Gate, Star Wars: Knights of the Old Republic und natürlich der Mass Effect-Reihe, wagt sich somit nicht nur in sehr neue Gefilde sondern will nach Mass Effect: Andromeda, das von Fans und Kritiker*innen nur mäßig gut aufgenommen wurde, auch wieder zurück auf die Erfolgsschiene.
Als Anthem auf der E3 2017 das erste Mal gezeigt wurde war es definitiv eines der Highlights der EA Play-Präsentation und vielleicht sogar eine der größten Hoffnungen der Messe. Optisch bot sich ein aufregender Anblick, der Gedanke gemeinsam mit Freund*innen in mechanischen Anzügen durch die Luft zu fliegen war mehr als verlockend, kurzum - der Trailer versprach einiges. Angekündigt wurde das Spiel, das sich bereits seit 2012 in Entwicklung befand, für Ende 2018, der Release wurde aber im Laufe der Zeit auf Februar 2019 verschoben, um nicht in direkte Konkurrenz zum nächsten Battlefield zu treten. Funfact: Schlussendlich erschien der Free-to-Play Ballte Royale-Titel Apex Legends, ebenfalls von EA gepublished, nur kurz bevor Anthem wirklich veröffentlicht wurde. Soll das mal einer verstehen.
In Anthem schlüpft ihr in die Haut eines sogenannten Freelancers, streift durch die Dschungelregion Bastion und verdient euch euer Geld als Söldner*in. Auf einer fiktiven und namenlosen Welt, die von den gottähnlichen Gestaltern künstlich erschaffen wurde, aber noch nicht fertiggestellt ist, nehmt ihr dort in eurem Hub "Fort Tarsis" diverse Aufträge entgegen und treibt die Story voran. DIese dreht sich rund um die namensgebende Hymne - im Englischen Anthem - welche von den Gestaltern technologisch genutzt wird. Da die Welt noch unvollendet ist und Flora und Fauna den Menschen nicht unbedingt freundlich gesinnt sind, müssen sich die Bewohner*innen des Planeten in Befestigungen wie Fort Tarsis verbarrikadieren. Bedroht werdet ihr im Spiel aber nicht nur von eurer Umwelt, sondern auch von der Dominion, einer bestens ausgerüsteten Fraktion anderer Menschen. Ihr werdet auf euren Erkundungstouren also auf jeden Fall mehr als genug Kanonenfutter vor euer Fadenkreuz bekommen. Darüber müsst ihr euch schonmal keine Sorgen machen.
Damit ihr diesen Gefahren aber wirklich gut gewappnet gegenübertreten könnt, braucht es mehr als kugelsichere Westen oder Helme. Und genau hier kommen die Javelins, quasi der Clou an Anthem, ins Spiel: ihr schlüpft vor jeder Mission in einen von vier Kampfanzügen. Diese besitzen alle unterschiedliche Fähigkeiten, ihr könnt sie aufbessern und je nach Wunsch ausrüsten. Näher werdet ihr eurer persönlichen Iron Man-Rüstung erstmal nicht kommen. Auswählen könnt ihr recht zu Beginn des Spiels zwischen den Klassen Ranger, dem Allround-Talent, Colossus, dem Tank im Arsenal, Storm, einem Art Magier und Interceptor, dem Nahkämpfer. Die Javelins selbst spielen sich alle erfrischend unterschiedlich und bieten nicht nur optische Abwechslung. Bestimmte Waffenarten sind dabei manchen Klassen vorbehalten, während andere von allen ausgerüstet werden können.
Und prinzipiell klingt das auch alles ganz geil und sollte eigentlich echt gut funktionieren. Leider werden Anthem und seine Ideen Opfer diverser Umstände. Und da reden wir bei weitem nicht vom Faktor Loot an sich. Vor jeglicher Kritik deshalb vorneweg gesagt: Ich liebe looten. Ich stecke unglaublich gern Stunden über Stunden in Spiele und grinde auf der Suche nach dem seltensten Equipment vor mich hin. Solange es Spaß macht. Aber Looten sollte Spaß machen. Wenn ich eine neue Waffe aufsammle, dann möchte ich mir diese direkt ansehen und sie - solange sie sich als brauchbar herausstellt - auch direkt ausrüsten können. Bioware macht es euch als Spieler*in aber umständlicher als notwendig und ihr müsst erst mal in die leider etwas seelenlose Basis Fort Tarsis zurück, um eure Ausrüstung zu wechseln. Dafür müsst ihr euch außerdem durch Ladebildschirme und diverse Menüs klicken. Habt ihr dann eure Waffe gewechselt und merkt im ersten Kampf, dass diese vielleicht nicht ganz euren Vorstellungen entspricht, dürft ihr die ganze Tour noch einmal von vorne starten. Das ist nicht nur mühsam und kostet Zeit, sondern raubt auch einiges an Spielspaß.
Das wäre natürlich aber noch zu verkraften, wenn die Story und andere Inhalte überzeugen würden. Jetzt denkt man sich, dass Bioware doch eigentlich Garant für exzellentes Storytelling ist. Die Betonung liegt aber ganz klar auf eigentlich. Die Hauptgeschichte des Spiels ist in ca. 15 - 25 Stunden - je nach Spielgeschwindigkeit - erzählt und hinterlässt nicht wirklich bleibenden Eindruck. Vielleicht ist sie nicht unbedingt schlecht, aber von Bioware ist man halt Besseres gewohnt. Was folgt ist ein Endgame, dem leider auch die Ideen fehlen. Statt mit neuen Kniffen zu punkten und Variation ins Spiel zu bringen, gibt es hier leider ebenfalls Standard-Kram zu erledigen, der auf Dauer leider etwas ermüdend ist. Ich hatte nicht nur hier, sondern das ganze Spiel über, das Gefühl, dass man vieles noch nicht zu Ende gedacht hat. Warum muss ich zum Beispiel während des Fluges immer wieder aufhören zu fliegen bzw stark nach unten steuern, damit mein Javelin nicht überhitzt? Das trägt nichts zum Spielgefühl bei, sondern bremst lediglich eines der wirklich spaßigen Elemente des Spiels - das Fliegen - aus.
Ein bisschen mehr Spaß bringt Anthem mit einer Gruppe von Freund*innen. Das spricht aber nicht unbedingt für das Spiel selbst. Denn seien wir uns ehrlich: selbst Sea of Thieves hat mit den richtigen Leuten Spaß gemacht. Zwei Tage lang. Zusätzlich werden wir in Biowares neuestem Machwerk von Bugs, Lags und wie weiter oben schon kurz erwähnt viel zu langen Ladezeiten geplagt. Selbst die Konsolen-Flagschiffe Xbox One X und Playstation 4 Pro können hier nicht weiterhelfen. Optisch kann man aber zum Glück nicht meckern. Die hauseigene Frostbite-Enginge liefert gewohnt hohe Qualität und kann in Anthem sogar noch einmal eine Schippe drauflegen. Was aber auch hier fehlt ist Abwechslung. Habt ihr eine Zeit lang die Spielwelt erkundet, habt ihr leider relativ schnell alles gesehen. Was in Destiny durch verschiedene Planeten gelöst wurde, wurde in Anthem ebenfalls nicht ganz fertig gedacht. Insgesamt fühlt es sich an, als hätte das Spiel noch nicht zum jetzigen Zeitpunkt erscheinen sollen.
"Anthem strotzt vor guten Ideen. Hätte man noch ein Jahr oder mehr an Arbeit investiert, hätte aus dem Ganzen ein wirklich ernstzunehmender Konkurrent für Destiny und Co. werden können. Im jetzigen Zustand haben wir es leider lediglich mit einer unfertig wirkenden Idee zu tun."
Ich habe mich wirklich auf Anthem gefreut. Ich habe auch extra ein bisschen mit diesem Test gewartet, um das Spiel nicht direkt zum Start ungerechtfertigt abzuwatschen. Wie wir alle wissen, brauchen diese Art von Spiele oft ein bisschen Feintuning, bevor man wirklich seinen Spaß damit haben kann. Leider hat mir Anthem auch nach den ersten Patches nicht wirklich Spaß gebracht, schlimmer noch: einer der aktuellsten Patches hat alles nur noch schlimmer gemacht. Das ganze wurde mittlerweile per Hotfix wieder rückgängig gemacht, aber zwischenzeitlich konnten eure Teamkamerad*innen für euch Loot einsammeln und so euer Inventar vollmüllen und Festungsbosse haben statt mehr meisterhaften Items einfach garkeine mehr gedroppt. Das ist nur eines der (zu) vielen Beispiele, an denen man sieht, dass in das Spiel noch einige Arbeit gesteckt werden muss, bevor es sein volles Potential entfalten kann. Von dem es eigentlich sehr viel gehabt hätte bzw. hat. Und das ist das eigentlich Traurige. Anthem strotzt vor guten Ideen. Hätte man noch ein Jahr oder mehr an Arbeit investiert, hätte aus dem Ganzen ein wirklich ernstzunehmender Konkurrent für Destiny und Co. werden können. Im jetzigen Zustand haben wir es leider lediglich mit einer unfertig wirkenden Idee zu tun. Schade.